Mit einfachen Übungen den Vagusnerv stimu­lieren und Stress reduzieren

Im Schneidersitz sitzt eine Frau am Boden inmitten einem Raum voller Pflanzen und entspannt sich.

Bei Stress, Konflikten und Ängsten schaltet unser Nervensystem auf Alarmbereitschaft. Ist die echte oder vermeintliche Gefahr gebannt, wechselt der Körper in den Ruhemodus. Bleibt der Druck jedoch bestehen, muss man aktiv nachhelfen. Zum Beispiel durch das Stimulieren des Vagusnervs.

Die Vagusnerv-Stimulation – ein Erbe aus der Urzeit

Sie sind zu spät zum wichtigen Termin? Genervt vom Chef oder den Kindern? Dann stellt Ihr Körper auf Stress um – ganz automatisch, als ob Gefahr bestünde vom Säbelzahntiger aus der Urzeit gefressen zu werden. Ist die Gefahr gebannt, der Termin vorbei, Kinder und Chef beruhigt, wird unter anderem der Vagusnerv aktiv und bringt den Körper zurück in die Entspannung.

Stimulation des Vagusnervs gegen Dauerstress

Problematisch wird es jedoch, wenn Stress zum Dauerzustand wird. Da kann es helfen, den Vagusnerv gezielt zu stimulieren – zum Beispiel durch Meditation oder Atemübungen. Ja sogar Summen, Gurgeln oder Augenyoga sollen den Vagusnerv aktivieren. Warum das funktioniert? Weil der Vagusnerv eine so wichtige Rolle in unserem Nervensystem spielt.

Unser «Ruhenerv»: Funktion des Vagusnervs

Beim Umschalten von Anspannung in die Entspannung, aber auch bei der Verdauung spielt der Vagusnerv eine zentrale Rolle. Er ist der grösste Nerv des parasympathischen Systems. Der Vagusnerv «entspringt», wo Hirnstamm und Rückenmark aufeinandertreffen und verläuft nach unten mit Verästelungen zu Ohren sowie Kehlkopf.

Vagusnerv verbindet Hirn mit Darm und anderen Organen

Im Brustbereich ist er verbunden mit Herz und Lunge, danach geht er durch die Speiseröhre zur Bauchhöhle. Hier verzweigt sich der Vagusnerv in viele feine Verbindungen zu den Organen im Bauchraum – Nieren, Milz, Magen, Leber – und endet im Dünndarm. Etwa 20% der Fasern des Vagusnervs verlaufen vom Gehirn zum Körper. Die restlichen 80% ziehen zum Gehirn hoch. Wie auf einer Datenautobahn wird so die Entscheidungszentrale ständig mit Informationen aus den Organen versorgt und reagiert darauf mit Signalen wie zum Beispiel «die Menge der Magensäure erhöhen».

Die Darm-Hirn-Achse

Redewendungen wie «Etwas liegt mir im Magen oder schlägt mir auf den Magen» kommen nicht von ungefähr. Auf negative Gefühle reagiert unser Körper mit Stresshormonen, die ihren Weg in den Magen-Darm-Trakt finden, woraufhin der Darmmuskel sich stark zusammenzieht. Diese Kontraktion kann bis zum Muskelkrampf gehen. Informationen, die der Vagusnerv gleich ans Gehirn weiterleitet, was bei häufigem Auftreten dann noch mehr Stress erzeugt.

Der Vagusnerv als Teil des Nervensystems

Der Vagusnerv ist Teil unseres autonomen Nervensystems. Dieses arbeitet, wie es der Name bereits verrät «eigenständig». Es läuft eine Art körpereigener Autopilot, den wir nicht bewusst steuern. Das gilt für Funktionen wie den Herzschlag, die Verdauung, Schwitzen, Gänsehaut oder die Sexualfunktion. Wir erteilen keinen direkten Befehl: «Mein Herz soll jetzt langsamer schlagen». Indirekt können wir den Herzschlag jedoch beeinflussen, zum Beispiel indem wir ruhig atmen.

Sympathisches Nervensystem: übernimmt bei Aufregung oder Stress

Unser autonomes Nervensystem setzt sich aus 2 Gegenspielern zusammen, die sich ergänzen: Sympathikus und Parasympathikus. Kommen wir in eine Stresssituation, übernimmt der Sympathikus automatisch das Ruder. Herzschlag und Blutdruck gehen hoch, Muskeln werden angespannt, Schweissdrüsen aktiviert, die Verdauung gedrosselt. Alle Systeme sind auf Kampf- und Flucht-Reaktion ausgerichtet.

Parasympathisches Nerven­sys­tem: übernimmt, wenn wir entspannt sind

Sobald die vermeintliche (oder reelle) Bedrohung vorüber ist, übernimmt der Parasympathikus das Steuer. Der Herzschlag wird beruhigt, die Atmung verlangsamt, die Muskulatur entspannt und der Verdauungsprozess wieder in Gang gesetzt. Optimal ist, wenn unser Körper problemlos zwischen dem «erregten» und «entspanntem» Zustand hin und her schalten kann.

Wann hilft die Stimulation des Vagusnervs?

Reizüberflutung, Leistungsdruck, Konflikte und Ängste sind die heutigen «Gefahren» für unseren Körper und können dazu führen, dass der Sympathikus überaktiv wird. Als Folge hängt unser Körper in einer Bedrohungs-Endlosschleife fest und schafft es nicht mehr in den «Ruhemodus» zurückzukehren. Anzeichen dafür können sein:

  • Auch während Ruhepausen ist es nicht möglich abzuschalten, die Gedanken kreisen weiter.
  • Muskeln sind verspannt, typischerweise im Schulter-Nacken-Bereich, aber auch im Kiefer oder Gesicht.
  • Das Ein- und Durchschlafen ist gestört, die Konzentrationsfähigkeit ist schwächer als sonst.
  • Lider und Augäpfel sind unruhig, die Augen trocken und der Speichel zäh.
  • Verdauungsbeschwerden treten auf – von Appetitlosigkeit über Heisshunger bis zu Blähungen, Verstopfung, Durchfall und Baukrämpfen.
  • Das Immunsystem ist geschwächt, eine Tendenz zu Entzündungen zeigt sich.
  • Man kann zu schneller und schriller Sprechweise tendieren; sich generell eher unsozial verhalten; Mühe haben, langen Blickkontakt zu halten.

Vagotonie: wenn der Vagusnerv überaktiv ist

Allerdings kann es auch genau andersherum kommen, nämlich dass das Parasympathische System zu sehr dominiert. Dann kann unser Körper nicht mehr «hochfahren». In diesem Fall kann der Blutdruck niedrig sein, der Puls langsam, die Hände und Füsse kalt und man fühlt sich antriebslos.

Übungen, um den Vagusnerv zu stimulieren

Eigentlich könnte man behaupten, dass jede Sorte von Entspannungsübung sich in irgendeiner Form auch auf den Vagusnerv auswirkt. Dennoch gibt es Punkte am Körper, die einen besonderen «Draht» zum Vagusnerv haben und diesen auch entsprechend gezielt aktivieren können. Im Folgenden finden Sie eine Übersicht über verbreitete Übungsformen, von denen sich die meisten relativ einfach zu Hause praktizieren lassen.

Tipp: Vor Beginn empfiehlt es sich, ein ruhiges, entspannendes Umfeld zu schaffen und die Übungen mit sanften Bewegungen sowie einem moderaten Rhythmus durchzuführen.

Atmen

Wir nehmen im Normalfall 12-14 Atemzüge pro Minute. In Stresssituationen sind es mehr, wir atmen eher durch den Mund und in die Brust. Um den Vagusnerv bzw. das parasympathische Nervensystem zu stimulieren, fokussieren Atemübungen darauf, langsam durch die Nase und in den Bauch zu atmen.

  • Das Einatmen ist kürzer als das Ausatmen. Ein möglicher Rhythmus ist: 4 Sekunden einatmen, 6 Sekunden ausatmen.
  • Oder die 4-7-8 Atmung: 4 Sekunden einatmen, 7 Sekunden halten, 8 Sekunden ausatmen.
  • Varianten gibt es verschiedene. Zum Beispiel das Box-Breathing. Dabei folgt die Atmung folgendem Schema: 4 Sekunden einatmen, 4 Sekunden den Atem halten, 4 Sekunden ausatmen und wieder 4 Sekunden halten.

Summen, Gurgeln und Singen

Der Vagusnerv ist mit dem Rachen, Kehlkopf und den Stimmbändern verbunden. Durch Summen, Gurgeln und Singen kann der Vagusnerv in diesem Bereich aktiviert werden. Dabei steht oder sitzt man bequem mit aufgerichteter Wirbelsäule. Beim Summen variiert man verschiedene Töne oder bleibt beim gleichen Ton für mehrere Minuten. Aus dem Yoga ist das Bhramari (Bienensummen) bekannt. Dabei summt man beim Ausatmen wie eine Biene und bedeckt Ohren und Augen mit den Händen. Beim Gurgeln mit Wasser werden Sequenzen von 10-20 Sekunden mehrmals wiederholt. Ziel beim Summen sowie Gurgeln ist es, möglichst viele Vibrationen zu erzeugen. Ähnlich ist es beim Singen – je lauter, desto besser für die Vagusnerv-Stimulation.

Augenübungen

Nicht nur aber besonders auch für müde, überanstrengte Augen aufgrund langer Tätigkeiten am Bildschirm: Augenpressur und Cinéma interne. Bei der Augenpressur positioniert man beide Hände für etwa eine Minute auf dem Gesicht über den Augen und drückt leicht auf die geschlossenen Augenlider. Beim Cinéma interne schliesst man ebenfalls die Augen. Dann «beobachtet» man die Schatten und Lichtmuster, die sich auf der Innenseite der Lider zeigen. Eine weitere einfache Übung sind Blicksprünge zwischen nah und fern. Dabei fokussiert man einen Gegenstand der sich auf Augenhöhe in etwa 20-30 Zentimeter Abstand befindet, wechselt nach einer Sekunde zu einem Gegenstand, der 2 bis 5 Meter entfernt ist, und wiederholt das Ganze für etwa 60 Sekunden.

Meditation

Meditation kombiniert Atemtechniken mit Achtsamkeitsübungen. Dabei richtet sich der Fokus auf die oben beschriebene Atmung und darauf, das ewig kreisende Gedankenkarussell loszulassen. Beim Bodyscan zum Beispiel werden die einzelnen Körperteile bewusst wahrgenommen und gespürt. Andere Formen konzentrieren sich während des Meditierens auf ein Wort oder eine Visualisierung wie eine brennende Kerze. Eine Form der geführten Meditation, die sich besonders auch Kindern erschliesst, sind Fantasiereisen. Hier führt ein Erzähler oder eine Erzählerin die Zuhörenden mit detaillierten, die Sinne ansprechenden Beschreibungen durch eine (erfundene) Welt.

Akupressur

Akupressur kommt wie die Akupunktur aus der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM). An Druckpunkten im Körper lassen sich durch Pressen oder Massieren Meridiane stimulieren. Einen solchen Druckpunkt, der den Vagusnerv stimulieren soll, gibt am Ohr. In der Mulde am Gehörgang sowie oberhalb des Gehörgangs drückt man mit dem Finger sanft, als ob man die Haut hin und her schieben würde, und so den Vagusnerv aktiviert. Auch hinter der Ohrmuschel können Sie mit ein oder zwei Fingern sanft auf- und abfahren oder die Haut für mehrere Sekunden zum Haaransatz hin und danach vom Haaransatz wegschieben.

Nackenmassage

Der Vagusnerv verläuft links und rechts der Halswirbel nach unten. Mit sanfter Massage, gefühlvollem Streichen mit den Händen lässt sich der Vagusnerv am Nacken stimulieren und generell auch Verspannungen lockern. Selbstverständlich haben auch andere Massageformen wie die Fussreflexzonenmassage einen positiven Entspannungseffekt und können den Vagusnerv aktivieren.

Kälte

Egal ob sich morgens Wasser ins Gesicht spritzen, die kalte Dusche, das winterliche Eisbad oder der Besuch in der Kältekammer – Kälte aktiviert unser Nervensystem. Die sich abwechselnden Temperatureinflüsse forcieren den Wechsel zwischen Sympathikus und Parasympathikus und sorgen dafür, dass auch der Vagusnerv aktiviert wird.

Weitere Methoden zur Vagusnerv-Stimulation

Wie Sie Ihrem Körper und dem Vagusnerv sonst noch Gutes tun können:

  • Gesunde und ausgewogene Ernährung
  • Intervallfasten oder intermittierendes Fasten
  • Ausdauersport wie Joggen, Wandern, Radfahren
  • EFT (Emotional Freedom Technique) / Tapping
  • Yoga, Tai Chi ...

Klinisch getestete Verfahren zur Vagusnerv-Stimulation

Auch in der Schulmedizin kommt die Vagusnerv-Stimulation zum Einsatz. Um 1990 entwickelten und testete ein Forscherteam in den USA eine Form der Vagusnerv-Stimulation zur Behandlung von Epilepsie, bei der der Vagusnerv direkt durch elektrische Impulse stimuliert wird.

Elektrostimulation via Implantat

Dazu wird ein Gerät unter die Haut implantiert und via Elektroden mit dem Vagusnerv verbunden. Aktiviert wird das Gerät durch eine magnetische Steuerung. Bei den klinischen Tests zeigte sich, dass diese Form der Vagusnerv-Stimulation ausserdem einen Effekt auf die Stimmung der Teilnehmenden hatte. Seit 1994 ist die Vagusnerv-Stimulation in der Schweiz für die Behandlung von Epilepsie zugelassen und seit 2011 zusätzlich für die Behandlung von schweren Depressionen. In beiden Fällen jedoch nur dann, wenn herkömmliche, medikamentöse Behandlungsmethoden keine ausreichende Wirkung zeigen.

Vagusnerv-Stimulation am Ohr

Als Alternative zur obengenannten, invasiven Vagusnerv-Stimulation wurde vor 20 Jahren die sogenannte transkutane Stimulation entwickelt. Dabei wird der Teil des Vagusnervs stimuliert, der am Ohr und Gehörgang entlagführt. Dazu werden Elektroden auf der Haut platziert. Diese Methode zeigt sich vielversprechend im Einsatz bei Epilepsie, Depressionen, Migräne sowie Entzündungen im Magen-Darm-Bereich, muss jedoch in Bezug auf ihre Anwendungsparameter noch weiter erforscht werden.


Quellen

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