Chronisches Erschöpfungssyndrom: Leben mit ständiger Fatigue

Ein Mann im Pyjama sitzt vor dem Bett am Boden und schaut sehr nachdenklich und erschöpft aus dem Fenster.

Viele Menschen fühlen sich nach einer Infektion nicht mehr wie früher. Doch wann wird anhaltende Erschöpfung zur Krankheit? ME / CFS, das Chronische Erschöpfungssyndrom, wirft viele Fragen auf – auch für die Medizin. Was wissen wir bisher?

Was ist das chronische Erschöpfungssyndrom?

Das chronische Erschöpfungssyndrom, auch ME / CFS (Myalgische Enzephalomyelitis / Chronic Fatigue Syndrom) genannt, ist eine neuroimmunologische Erkrankung. Dies bedeutet, dass sie das Nerven- und Immunsystem der erkrankten Person betrifft. Die Erkrankung zeigt sich vorrangig durch eine anhaltende und ausgeprägte Erschöpfung, sogenannte Fatigue, nach einer Belastung und eine Belastungsintoleranz. Die Belastung kann körperlich, psychisch, emotional oder auch ein Reiz wie z. B. Licht sein. Viele ME / CFS Betroffene hatten vor ihrer Erkrankung eine virale Infektionskrankheit wie das Pfeiffersche Drüsenfieber oder Covid-19.

Ein Syndrom ist eine Sammlung von Symptomen, die häufig zusammen auftreten, aber deren Ursache nicht eindeutig bekannt oder vielfältig sein kann.

Was ist der Unterschied zu chronischer Müdigkeit?

Chronische Müdigkeit ist ein unspezifisches Symptom, welches bei verschiedenen Erkrankungen oder durch Lebensstilfaktoren auftritt. Meist erholen sich die Betroffenen davon, wenn die Ursache behandelt wird. Das chronische Erschöpfungssyndrom hingegen ist eine biologische Funktionsstörung mit vielfältigen Symptomen und stellt eine eigenständige Diagnose dar. Chronische Müdigkeit kann beeinträchtigend sein, ist aber in der Regel nicht mit der Fatigue bei ME / CFS vergleichbar.

ME / CFS erklärt von Neurologin Maja Strasser

Maja Strasser ist Fachärztin für Neurologie und Gründerin des Long-Covid-Netzwerks Solothurn. In ihrer Praxis betreut sie Betroffene des chronischen Erschöpfungssyndroms.
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Symptome des chronischen Erschöpfungssyndroms

Die Symptome des chronischen Erschöpfungssyndroms beeinträchtigen das Leben der Betroffenen stark und können, je nach Schweregrad, einen normalen Alltag nahezu unmöglich machen. Das Hauptmerkmal der Erkrankung ist die sogenannte Post-Exertionelle Malaise (PEM), eine nach Belastung auftretende Verschlechterung des Allgemeinzustands, die meist mit einer Verzögerung von 12 bis 72 Stunden einsetzt. Bereits geringe körperliche Aktivitäten, psychische Belastungen oder selbst Reize wie Licht und Lärm können die Beschwerden deutlich verstärken und führen oft zu einer tiefgreifenden Erschöpfung. Diese Erschöpfungsphasen können Tage, Wochen oder sogar Monate andauern.

Meine am schwersten betroffenen Patientinnen und Patienten leben bettlägerig in absoluter Dunkelheit und absoluter Stille.
Maja Strasser, Fachärztin für Neurologie und ME / CFS Expertin

Die Post-Exertionelle Malaise als Symptom

  • beschreibt eine deutliche Verschlechterung der bestehenden Symptome
  • tritt meist 12 bis 72 Stunden nach körperlicher oder geistiger Belastung auf
  • wird bereits durch geringfügige Anstrengungen ausgelöst, die vor der Erkrankung problemlos waren
  • ist unverhältnismässig stark im Vergleich zur eigentlichen Belastung
  • hält aufgrund einer gestörten Erholungsreaktion von Stunden bis zu mehreren Wochen oder Monaten an
  • kann den allgemeinen Gesundheitszustand dauerhaft verschlechtern

Weitere Symptome

Neben der Post-Exertionellen Malaise und Belastungsintoleranz leiden Menschen mit dem Chronic Fatigue Syndrom häufig unter einer Vielzahl weiterer Beschwerden. Insgesamt sind über 200 unterschiedliche Symptome bekannt. Kein Organsystem bleibt dabei immer verschont.

Zu den häufigsten Symptomen gehören:

  • Orthostatische Intoleranz, die Unfähigkeit des Körpers den Kreislauf in aufrechter Position zu stabilisieren
  • Herzrasen und Kreislaufprobleme oft infolge der orthostatischen Intoleranz
  • Schlafstörungen
  • Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, auch als «Brain-Fog» beschrieben
  • Halsentzündungen
  • Kopfschmerzen
  • Gelenk-, Muskel- sowie Bauchschmerzen
  • Depressionen, vor allem bei schwerwiegenden Symptomen oder Verschlechterung des Zustands
Viele Symptome des chronischen Erschöpfungssyndroms überschneiden sich mit jenen einer Fibromyalgie. Experten vermuten, dass die Krankheiten verwandt sind.

Erfahrungsbericht: Betroffene erzählt von ihrem Leben mit ME / CFS

Lisa Welter war sportlich, beruflich erfolgreich und gesellig. Durch die Erkrankung funktioniert ihr Körper oft nur bei 20 bis 30 Prozent seiner Energie, als wäre ihr Akku dauerhaft beschädigt.
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Tägliche Herausforderungen & kleine Fortschritte

Lisa Welter teilt ihre Erfahrung über das Leben mit dem chronischen Erschöpfungssyndrom. Sie erzählt, wie sich die Krankheit entwickelt hat, wie sie ihren Alltag meistert und welche Strategien ihr helfen, mit der dauerhaften Fatigue umzugehen. Der persönliche Erfahrungsbericht gibt Einblick in die täglichen Herausforderungen, aber auch in kleine Fortschritte und Hoffnung im Umgang mit der Krankheit.

Die Auslöser des chronischen Erschöpfungssyndroms

Die meisten Menschen mit chronischem Erschöpfungssyndrom waren vor Krankheitsbeginn körperlich und geistig normal belastbar. In der Regel entwickelt sich die Erkrankung im Anschluss an ein belastendes Ereignis. Häufige Auslöser des Chronic Fatigue Syndrom sind virale Infektionen wie Influenza (Grippe), das Epstein-Barr-Virus (Pfeiffersches Drüsenfieber) oder Covid-19. Auch andere belastende Ereignisse (z.B. körperliche oder psychische Traumata) können eine Erkrankung auslösen, darunter bakterielle Infektionen wie Lyme-Borreliose oder das Q-Fieber (Ziegengrippe) sowie hormonelle oder körperliche Belastungen wie eine Schwangerschaft oder Entbindung.

Die Ursachen sind ungeklärt

Obwohl verschiedene Auslöser der Erkrankung bekannt sind, bleibt die genaue Ursache des chronischen Erschöpfungssyndroms bislang weitgehend unklar. Es gibt jedoch diverse Hinweise darauf, dass bei ME / CFS eine Fehlregulation des Immunsystems vorliegt und autoimmune Prozesse beteiligt sind. Forschende vermuten zudem, dass Veränderungen bei den Stresshormonen (Cortisol) oder in den Mitochondrien, den «Kraftwerken» der Zellen, eine Rolle spielen könnten. Auch genetische Faktoren und Umwelteinflüsse stehen im Fokus aktueller Forschung. Gesicherte Erkenntnisse liegen derzeit jedoch noch nicht vor. Studien zeigen, dass Frauen etwa zwei- bis dreimal häufiger betroffen sind als Männer.

Diagnose des chronischen Erschöpfungssyndroms

Da die Ursachen von ME / CFS bisher nicht eindeutig geklärt sind, ist auch die Diagnose anspruchsvoll. Spezifische Labor- oder Bluttests fehlen, weshalb es sich um eine Ausschlussdiagnose handelt. Ärztinnen und Ärzte müssen zunächst andere mögliche Ursachen ausschliessen, etwa Anämie, Elektrolytstörungen, Erkrankungen der Nieren oder Schilddrüse, Entzündungen, Schlafstörungen oder Nebenwirkungen von Medikamenten.

Für die Diagnose müssen folgende Kriterien erfüllt sein

  • Ausgeprägte Fatigue, die sich durch Ruhe nicht bessert
  • Verschlechterung der Symptome nach Belastung (Post-Exertionelle Malaise)
  • Nicht erholsamer Schlaf

Zusätzlich muss mindestens eines der folgenden Anzeichen vorliegen

  • Kognitive Einschränkungen («Brain Fog»)
  • Schwindel oder Benommenheit beim Aufstehen, die sich im Liegen bessern

Die Diagnose wird gestellt, wenn diese Symptome über mindestens 6 Monate und mit deutlicher Intensität bestehen und keine andere Erklärung gefunden wird.

Einschätzung des Schweregrads

Zur Einschätzung des Schweregrads wird häufig die CFS-Bell-Skala verwendet, die die Einschränkungen im Alltag von 0 (schwerste Form, bettlägerig) bis 100 (voll funktionsfähig) bewertet. Auch einfache Tests wie die Handkraftmessung können Hinweise auf die körperliche Belastbarkeit geben. Dabei wird die Handkraft im Abstand von einer Stunde jeweils zehnmal geprüft. Bei ME / CFS-Betroffenen zeigt sich dabei im Vergleich zu Gesunden ein deutlicher Kraftabfall.

Wie wird das chronische Erschöpfungssyndrom behandelt?

Da es bisher keine ursächliche Therapie für das chronische Erschöpfungssyndrom gibt, steht die Linderung der Beschwerden im Vordergrund. Ziel ist es, die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern und den Alltag besser bewältigen zu können. Einzelne Symptome wie Schlafstörungen, Schmerzen oder Pulsregulation (orthostatische Intoleranz) können gezielt behandelt werden. Je nach Situation kommen Medikamente gegen Depressionen, Schlaf- oder Schmerzmittel sowie kognitive Verhaltenstherapie zur Unterstützung infrage. Auch das Vermeiden von erneuten Infektionen und eine gute allgemeine Gesundheitsvorsorge spielen eine wichtige Rolle.

Behandelt man die Pulsregulation, geht es den meisten Betroffenen bereits deutlich besser.
Maja Strasser, Fachärztin für Neurologie und ME / CFS Expertin

Pacing als Behandlung

Ein zentraler Bestandteil der Behandlung ist meist sogenanntes Pacing. Dabei lernen Betroffene, ihre Aktivitäten so zu gestalten, dass sie innerhalb ihrer individuellen Belastungsgrenzen bleiben und keine Verschlechterung durch die Post-Exertionelle Malaise (PEM) riskieren. Im Mittelpunkt stehen dabei gezielte Ruhepausen, das Anpassen des Energieeinsatzes und das bewusste Wahrnehmen der eigenen Grenzen.

Ergänzungsmittel

Zur Behandlung von ME / CFS werden teilweise Nahrungsergänzungsmittel wie Magnesium, Coenzym Q10, Selen oder Tryptophan eingesetzt, deren Wirksamkeit wissenschaftlich jedoch nicht eindeutig belegt ist.

Individuelle Therapie

Da sich ME / CFS bei jeder betroffenen Person unterschiedlich zeigt, ist die Behandlung sehr individuell. Verschiedene Ansätze müssen gemeinsam mit der behandelnden Fachperson ausprobiert und regelmässig angepasst werden.

Alternative Heilmethoden

Auch naturheilkundliche Ansätze wie Ginseng, Yoga oder Atemtechniken, etwa die Wim-Hof-Methode, können ergänzend angewendet werden, idealerweise unter ärztlicher Begleitung. Sie können hilfreich sein, wenn Betroffene sie individuell als entlastend oder wohltuend empfinden. Methoden wie Ausschlussdiäten oder sogenannte Entgiftungstherapien sollten Betroffene hingegen vermeiden, da sie wirkungslos sind und Nebenwirkungen verursachen können.

Was ist der Unterschied zwischen Long Covid und ME / CFS?

Long Covid bezeichnet anhaltende Beschwerden nach einer Ansteckung mit dem Coronavirus (SARS-CoV-2). Die Symptome ähneln häufig denen des chronischen Erschöpfungssyndroms, etwa Konzentrationsstörungen, Fatigue oder Belastungsintoleranz. In einigen Fällen kann sich Long Covid zu einem Chronic Fatigue Syndrom entwickeln. Studien zeigen, dass rund 10% der Long-Covid-Betroffenen die Kriterien dieser Erkrankung erfüllen. Bei den meisten Long Covid-Betroffenen bessern sich die Beschwerden jedoch im Verlauf von etwa 12 Monaten deutlich.

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